Publisher's Synopsis
"Die Aufklarung zerstort Tabus, aber sie ist ihrerseits auch ein Biotop fur Tabus." - Vor allem in Hinsicht auf Sexualitat lauft um 1800 ein Tabuisierungsprozess dem Aufklarungsprozess entgegen oder zumindest laufen beide parallel. Zur Thematisierung des Ineinandergreifens der Tabuisierung und Aufklarung in der Literatur um 1800 beschaftigt sich die vorliegende Arbeit mit folgenden Werken: Lessings "Emilia Galotti" (1772), Kleists "Erdbeben in Chili" (1807) und "Die Marquise von O ..."(1808) sowie Goethes "Stella" (1776 erste Fassung und 1803 zweite Fassung) und "Die Wahlverwandtschaften" (1809). Genauer gesagt werden hier jeweils folgende Tabus behandelt und verhandelt: der Verlust der weiblichen Unschuld ("Emilia Galotti" und "Die Marquise von O ..."), voreheliche Sexualitat und Schwangerschaft ("Das Erdbeben in Chili") sowie freier Liebesaustausch und Ehebruch ("Stella" und "Die Wahlverwandtschaften"). Die vorliegende Arbeit kommt dabei zu folgendem Ergebnis: Lessings "Emilia Galotti" strebt, vor dem Hintergrund des Aufklarungsprojekts, geradezu polemisch nach einer Destruktion des Tabus: Das Tabu wird als ein Hindernis fur die Aufklarung und als die inhumane Seite des neuen burgerlichen Moralsystems inszeniert. Kleist hingegen erfasst das Tabu nicht nur, wie Lessing, in seiner repressiven Funktion, sondern legt mit einer ans Groteske grenzenden Ironie die paradoxe Struktur des Tabus und der ihm zugrunde liegenden Werte in zugespitzter Weise offen - ganz in Sinne einer Dekonstruktion. Goethes Experiment in "Stella" und "Die Wahlverwandtschaften" kann man als einen Versuch der Tabu-Rekonstruktion verstehen, die dem Tabu einen moralischen Wert zuweist, wenngleich nicht ohne bittere Ironie und kritische Vorbehalte.